Kletterblatt 2006 - page 81

Thema
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kletterblatt
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form durch Kappung eines
Stämmlings zu erwähnen. In-
wieweit die Vorschädigung je-
doch zu einer erhöhten Bruch-
oder Kippgefahr bei begin-
nenden Orkanböen führt, war
zunächst unklar.
Aus diesem Grund wurde der
Baum eingehend mit Hilfe der
Elasto-Inclino-Methode sowie
mit einem Schalltomografen
untersucht. Zur Visualisierung
des Aushöhlungsgrades des
Stammes im Stammkopfbe-
reich bzw. des gekappten
Stämmlings wurden zwei
Messungen mit dem Schallto-
mografen vorgenommen. Die
Belastung des Baumes im
Rahmen des Zugversuches er-
folgte in zwei Lastrichtungen,
um sowohl den von Bauten
bestimmten vorherrschenden
örtlichen Windströmungen als
auch den typischen Windver-
hältnissen (Weststürme, Fön-
stürme aus Süden) Rechnung
zu tragen.
Bei den späteren Berechnun-
gen stellte sich heraus, dass
der noch vorhandene lastab-
tragende, gesunde Stamm-
querschnitt problemlos der Ei-
gengewichtsbelastung von
etwa 8 t standhält, welche
sich aus der Summe von
Baumgewicht, Wohnwagen
und möglicherweise auftre-
tender Schneelast zusammen-
setzt. Bei den Zugversuchen
zeigte sich, dass beide
Stämmlinge im Bereich des
Stammkopfes erwartungsge-
mäß deutliche Defizite bezüg-
lich ihrer Bruchsicherheit auf-
wiesen. Mittels Spezialsoft-
ware wurde berechnet, wie
stark ein Kronenrückschnitt
ausgeführt werden müsste,
um die Bruchsicherheit wie-
der zu gewährleisten. Für die
Standsicherheit wurde ein
Wert etwas unterhalb des
geforderten Sollwertes von
150 % ermittelt. Kurioserweise
war die Rosskastanie 10 Jahre
zuvor bereits mit Hilfe der
Elasto-Inclino-Methode unter-
sucht worden. Damals wurde
für die Standsicherheit ein
Wert auf ähnlichem Niveau
festgestellt. Aus Gründen der
Verkehrssicherheit wurde ein
Rückschnitt des bislang nicht
eingekürzten Stämmlings um
4 m sowie eine Rückveranke-
rung der Stämmlinge auf be-
stehende Gebäude empfoh-
len. Aus baumfachlicher Sicht
keine spektakulären Maßnah-
men, wenngleich sie der wei-
teren Entwicklung des Bau-
mes nicht unbedingt zuträg-
lich sind.
Auf dem Wege der Verwal-
tungsgerichtsbarkeit wurde
jedoch zunächst die Vollstre-
ckung der Beseitigungsanord-
nung für rechtlich wirksam er-
klärt und die Stadt hat ihre
Androhung des Zwangsgeldes
in die Tat umgesetzt. Aus die-
sem Grund hat sich der
Künstler entschlossen, das
Kunstwerk „Belle Etage“ zu-
nächst abzubauen und im
Rahmen eines Hauptverfah-
rens die Erlaubnis zur Wie-
dererrichtung zu erstreiten.
Dieser Gutachtensauftrag war
eine Herausforderung an den
technischen Sachverstand,
dessen Lösung ein großer An-
sporn war. Die Idee des
Künstlers sollte nicht als Bei-
spiel für Wiederholungstäter
herangezogen werden. Was
den massiven Eingriff in die
Gestalt des Baumes anbelangt,
kann lediglich die ohnehin
nicht geringe Vorschädigung
als mildernder Umstand ange-
führt werden. Andererseits
darf man nicht vergessen,
dass es sich um ein einmali-
ges Kunstobjekt handelt. Be-
trachtet man die zu Tausen-
den verstümmelten Bäume in
unseren Städten und an den
Straßen, kann man über den
Ausnahmefall des Baumfrevels
durch den „Fliegenden Hol-
länder“ doch leicht hinwegse-
hen. Es wurde zumindest ein
Kunstwerk geschaffen.
D
Brudi & Partner
Tree
Consult
Frank Bischoff,
Erk Brudi und
Andreas Detter
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