Kletterblatt 2006 - page 80

Thema
anerkannten Regeln der Bau-
kunst. Zudem sei der Baum
durch die Kappung als zer-
stört einzustufen und könne
jederzeit auseinander brechen.
Dadurch gefährde der Baum
mit Kunstwerk auch Passan-
ten. Aus diesen Gründen wur-
den eine sofortige Beseitigung
des Wohnwagens sowie die
Einkürzung des belassenen
Stämmlings verfügt, verbun-
den mit der Androhung eines
Zwangsgeldes in Höhe von
20.000 Euro.
An diesem Punkt erkannte
Flatz, dass gesunder Men-
schenverstand allein nicht
mehr ausreicht und beauf-
tragte unser Sachverständi-
genbüro mit der Überprüfung
der Verkehrssicherheit der
Rosskastanie. Die Lösung die-
ser Aufgabe wurde von uns
als gleichermaßen anspruchs-
wie reizvoll empfunden, stell-
te sie doch eine Novität dar,
die ein Unikum bleiben dürfte.
Unzweifelhaft war die stati-
sche Ausgangssituation durch
verschiedene Vorschädigun-
gen als geschwächt zu beur-
teilen. Hier sind insbesondere
die Höhlung mit Fäulnis im
Stammkopfbereich des Bau-
mes in rund 3 m Höhe und
die asymmetrische Kronen-
ige Baumstatik:
ruft nach Sachverstand
Künstler Flatz
Jeder Baum ist für sich
genommen einzigartig.
Trotzdem kann sich bei
Baumprofis schon mal
Routine einschleichen.
Ganz anders sieht dies
aus, wenn ein provo-
kanter und mutiger
Künstler ein von langer
Hand geplantes Objekt
verwirklicht.
Mit seiner Skulptur „Belle
Etage“ schuf der Münchner
Künstler Flatz vor seinem
Atelier auf der Praterinsel ein
Kunstwerk, das 2004 in der
Landeshauptstadt für einiges
Aufsehen sorgte. Wer bitte
schön kommt auch auf die
Idee, die Außenhaut eines 2-
achsigen Panoramawohnwa-
gens mit Blattgold zu verse-
hen und das Ganze auf den
gekappten Stamm eines
Baumes in luftige Höhe zu
verfrachten?
Die volle Wirkung entfaltet
sich nachts, wenn das ver-
goldete Prunkstück gleich
dem Friedensengel, einem
sehr viel älteren Wahrzeichen
Münchens, dank der instal-
lierten Beleuchtung erstrahlt.
Der Innenraum ist im Übri-
gen auch gestaltet: mit Sitz-
ecke, Bar und Kühlschrank,
alles mit rotem Stoff ausge-
schlagen. Spätestens hier
lässt sich über Geschmack
streiten.
Der Stadt München war das
Kunstwerk jedoch ein Dorn
im Auge: es beeinträchtige
das Straßen-, Orts- und
Landschaftsbild, da es ein ir-
ritierender bzw. provozieren-
der Fremdkörper sei. Außer-
dem widerspräche es den
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