„Ach Gott, die Kunst ist lang / und kurz
        
        
          ist unser Leben“, klagt Wagner in Goe-
        
        
          thes Faust. Und diese Erkenntnis der
        
        
          flüchtigen Endlichkeit seiner eigenen
        
        
          Existenz scheint manchen Baumschnei-
        
        
          der so ergriffen zu haben, dass er be-
        
        
          schloss, nicht Baumpfleger, sondern
        
        
          Künstler zu sein. Statt einfach nur
        
        
          einen fachgerechten Baumschnitt zu
        
        
          machen, will er Kunst schaffen. Seine
        
        
          Baumkunst wird nicht nur ein abge-
        
        
          bildetes Objekt, nein, der Baum wird
        
        
          selbst zum Kunstwerk. Und so ersetzt
        
        
          das Lexikon der Kunst das Handbuch
        
        
          der soliden Baumpflege.
        
        
          Während auf dem römischen Mosaik
        
        
          der Künstler den Unterschnitt an einem
        
        
          von der Witterung stark gezeichneten
        
        
          Baum nur figurativ darstellen konnte,
        
        
          will unser Zeitgenosse den Unterschnitt
        
        
          selbst zur Kunst erheben. Die Kamin-
        
        
          schlote eines Dürers sind für ihn apoka-
        
        
          lyptische Skelettfinger, die emphatisch
        
        
          die Gefahren der industriell verursach-
        
        
          ten Klimaveränderung symbolisieren.
        
        
          Ihre Fortsetzung und zeitgemäße Voll-
        
        
          endung finden Dürers Visionen in Gia-
        
        
          comettis Baumständern. Hier kündigt
        
        
          sich schon der neue Stil an: einfach,
        
        
          schlicht, sachlich. Der Baum wird auf
        
        
          sein Nötigstes reduziert, kein unnötiger
        
        
          Ars longa,
        
        
          vita brevis!
        
        
          Zierrat verunstaltet den Baum. Neben-
        
        
          bei hat dies noch den Vorteil, dass so
        
        
          ein Baum nie mehr als Weihnachts-
        
        
          baum zweckentfremdet werden kann.
        
        
          Nur noch ein Lattenzaun mit dem be-
        
        
          kannten Zwischenraum, um durchzu-
        
        
          schaun. Hat Hobbema mit seinem per-
        
        
          fekten Lichtraumprofil nicht eine geist-
        
        
          reiche Metapher für die Aufklärung ge-
        
        
          schaffen? Schneidet Freiräume, damit
        
        
          das Licht die Köpfe der Menschen er-
        
        
          reicht! Ein zersauster Cezanne bietet
        
        
          allemal mehr Substanz als jedes noch
        
        
          so langweilige Handbuch. Und einem
        
        
          Blitz gleich, schleudert Franz Marc sei-
        
        
          nen Baum in die Welt.
        
        
          So gerüstet wird jeder Baumschnitt, mit
        
        
          der Säge in der einen Hand und dem
        
        
          Kunstlexikon in der anderen, von Fach-
        
        
          wissen ungetrübt, zum epochalen Kunst-
        
        
          werk. Ein kongenialer Georg Baselitz:
        
        
          „Künstler sind Leute, die etwas tun, für
        
        
          das sich andere schämen würden.“
        
        
          Aber ganz ausschließen kann ich es nicht,
        
        
          dass es vielleicht doch Baumpflege sein
        
        
          soll. Dann jedoch wird es eigentlich erst
        
        
          richtig zur Kunst. Nämlich im Sinne der
        
        
          Definition von Johann Nepomuk Nest-
        
        
          roy: „Kunst ist’s, wenn man’s nicht kann,
        
        
          denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst“.
        
        
          oder: Wenn Baumschneider Künstler werden
        
        
          
            77
          
        
        
          
            kletterblatt
          
        
        
          
            07
          
        
        
          
            Thema