Kletterblatt 2007 - page 77

„Ach Gott, die Kunst ist lang / und kurz
ist unser Leben“, klagt Wagner in Goe-
thes Faust. Und diese Erkenntnis der
flüchtigen Endlichkeit seiner eigenen
Existenz scheint manchen Baumschnei-
der so ergriffen zu haben, dass er be-
schloss, nicht Baumpfleger, sondern
Künstler zu sein. Statt einfach nur
einen fachgerechten Baumschnitt zu
machen, will er Kunst schaffen. Seine
Baumkunst wird nicht nur ein abge-
bildetes Objekt, nein, der Baum wird
selbst zum Kunstwerk. Und so ersetzt
das Lexikon der Kunst das Handbuch
der soliden Baumpflege.
Während auf dem römischen Mosaik
der Künstler den Unterschnitt an einem
von der Witterung stark gezeichneten
Baum nur figurativ darstellen konnte,
will unser Zeitgenosse den Unterschnitt
selbst zur Kunst erheben. Die Kamin-
schlote eines Dürers sind für ihn apoka-
lyptische Skelettfinger, die emphatisch
die Gefahren der industriell verursach-
ten Klimaveränderung symbolisieren.
Ihre Fortsetzung und zeitgemäße Voll-
endung finden Dürers Visionen in Gia-
comettis Baumständern. Hier kündigt
sich schon der neue Stil an: einfach,
schlicht, sachlich. Der Baum wird auf
sein Nötigstes reduziert, kein unnötiger
Ars longa,
vita brevis!
Zierrat verunstaltet den Baum. Neben-
bei hat dies noch den Vorteil, dass so
ein Baum nie mehr als Weihnachts-
baum zweckentfremdet werden kann.
Nur noch ein Lattenzaun mit dem be-
kannten Zwischenraum, um durchzu-
schaun. Hat Hobbema mit seinem per-
fekten Lichtraumprofil nicht eine geist-
reiche Metapher für die Aufklärung ge-
schaffen? Schneidet Freiräume, damit
das Licht die Köpfe der Menschen er-
reicht! Ein zersauster Cezanne bietet
allemal mehr Substanz als jedes noch
so langweilige Handbuch. Und einem
Blitz gleich, schleudert Franz Marc sei-
nen Baum in die Welt.
So gerüstet wird jeder Baumschnitt, mit
der Säge in der einen Hand und dem
Kunstlexikon in der anderen, von Fach-
wissen ungetrübt, zum epochalen Kunst-
werk. Ein kongenialer Georg Baselitz:
„Künstler sind Leute, die etwas tun, für
das sich andere schämen würden.“
Aber ganz ausschließen kann ich es nicht,
dass es vielleicht doch Baumpflege sein
soll. Dann jedoch wird es eigentlich erst
richtig zur Kunst. Nämlich im Sinne der
Definition von Johann Nepomuk Nest-
roy: „Kunst ist’s, wenn man’s nicht kann,
denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst“.
oder: Wenn Baumschneider Künstler werden
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